Gerade habe ich einen "Bericht" an meinen Rotary-Club zwischen meinen Mails wiedergefunden, den ich kurz vor Weihnachten 2013 geschrieben habe.
Beim Lesen sind mir viele Erinnerungen verbunden mit vielen Emotionen hochgekommen....
ich bin jetzt schon 158 Tage hier in Chile, die Hälfte meines Auslandsjahres ist so gut wie vorbei, so schnell ist die Zeit vergangen! Ich bin echt glücklich hier und habe so viele wundervolle Momente erlebt, aber dass schon fast ein halbes Jahr vorbei ist, ist für mich unvorstellbar! Als ich mich vor ungefähr 1 ½ Jahren zu diesem Jahr in Ausland entschieden habe, war es noch ziemlich unwirklich alles, und als ich dann ungefähr vor einem Jahr erfahren habe, dass ich nach Chile komme, wusste ich auch nicht viel mehr. Ich weiß noch, dass ich stundenlang im Internet, in Reiseführern und allem was ich fand über Chile gelesen habe. Wen ich über Chile nachdachte hatte ich Assoziationen wie die Hitze in der Atacama Wüste, die Kälte am Südpol, die Berge zum Skifahren, das Meer mit Strand, die Osterinsel, Uhreinwohner, Traditionen, bunte Kleider, Tänze, Berge, Natur. Ich las voller Vorfreude Bücher von Isabel Allende und guckte Dokumentationen im Fernsehen, aber im Grunde genommen hatte ich trotzdem gar keine Ahnung was auf mich zu kommen würde. Als mir dann im März meine Gastschwester schrieb, dass ich in Santiago leben würde, war ich echt total glücklich – in einer Großstadt zu leben, mit Wolkenkratzern und mehr als 5 Millionen Menschen, ein komplett anderes Leben als im kleinen Herford. Ich schrieb fast jeden Tag mit meiner Gastschwester, die aber später leider für ihr eigenes Auslandsjahr nach Deutschland ging. Und ziemlich schnell verging dann irgendwie auch die Zeit bis zu meinem Abflug. Ich war, wie wahrscheinlich jeder in dieser Situation, ziemlich aufgeregt und auch ein bisschen traurig meine Familie und Freunde und eigentlich mein ganzes altes Leben zurückzulassen.
Dann im August war der Flug. Ich traf mich mit allen zwanzig deutschen Austauschschülern meines neuen Distriktes im Frankfurter Flughafen. Weil ich von Hannover einen Zubringerflug nahm, hatte ich mich schon von meinen Leuten verabschiedet. Der Flug war wie eine Klassenfahrt, wir setzten uns alle zusammen und waren super aufgeregt. Nach 19 Stunden kamen wir endlich an und mehr als 200 Leute erwarteten uns im Flughafen, denn am gleichen Tag kamen auch noch Inbounds aus anderen Ländern an. Alles war voll, alle schrien herum und suchten ihr Gastkind. Ich sah meine Gastschwester sofort und genau in diesem Zeitpunkt realisierte ich wirklich, dass ich in meinem Auslandsjahr bin, tausende Kilometer weg von Zuhause. Die erste Woche lernte ich meine Umgebung kennen und es war echt komplett anders als vorgestellt, das Zentrum meiner Kommune Maipú ( der größten Kommune Chiles), war nicht größer als das von Herford, es waren kaum Menschen auf der Straße und fast alle Häuser waren klein und hatten einen 2 Meter hohen Zaun herum. Man merkte, dass man weder im Touristengebiet noch im Bankenviertel oder so etwas war, sondern dort wo die einfachen, normalen Leute wohnen, ohne wahnsinnig viel Geld. Ich fiel schon ziemlich auf und gleich sprachen mich Leute im Bus an, ob ich Deutsche wäre (denn offensichtlich sind ja alle Leute mit blonden Haaren Deutsche oder!?). Nach einer Woche ging dann meine Gastschwester nach Deutschland, ich wurde zum erste Mal in meinem Leben Einzelkind und alles wurde schwieriger, denn wir hatten zwar zusammen Deutsch und Spanisch gelernt, aber eigentlich ziemlich viel Englisch gesprochen. Hier gibt es aber ziemlich wenig Leute, die mehr als 10 Wörter Englisch sprechen. Es wird zwar in der Schule beigebracht, aber leider kann ich aus eigener Erfahrung sagen, wie viel man hier im Englischunterricht lernt, nämlich GARNICHTS.
Trotzdem lernte ich jeden Tag mit meiner Gastmutter Spanisch, fragte ganz viele Sachen nach und mein Spanisch wurde schnell besser und das Leben wurde entspannter.
Meine Schule hier ist eine katholische Schule, die zweitbeste (von mehr als 200) Schulen in Maipú. (Leider sind die Unterschiede der Bildungsniveaus ziemlich groß in Chile). Es gibt keine richtige Schuluniform, da das gegen die Prinzipien von Pedro Poveda, dem Heiligen meiner Schule, verstößt. Dafür gibt es etwas wie eine Laborkittel, den man im Unterricht trägt. Die Eltern der Schüler sind größtenteils aus der mittleren Gehaltsklasse, da meine Schule vom Staat subventioniert ist und dadurch nicht sehr teuer, aber trotzdem gut ist. Mein Liceo ist auch komplett anders, als meine deutsche Schule, das Königin-Mathilde-Gymnasium. Es gibt nur 500 Schüler, und es ist quasi von der 9. bis zur 12. Klasse, ich habe gerade die 10. Klasse abgeschlossen und komme jetzt in die 11. Eine für mich sehr ungewöhnliche Sache ist, dass die Religion mit einbezogen wird, jeden Tag etwas aus der Bibel vorgelesen und gebetet wird. Außerdem ist meine Schule sehr auf Solidarität aufgebaut und irgendwie ein bisschen Hippie mäßig. Letztens haben sich alle Schüler auf dem Schulhof versammelt, erst Yoga gemacht und dann Entspannungsübungen gemacht, das sollte man in deutschen Schulen vielleicht auch mal einführen!
Die Schüler sind auch alle sehr engagiert, die Schüler betreuen eine obdachlose Familie einer krebskranken Mutter mit zwei Säuglingen und wir haben zusammen Geld gesammelt und ihnen ein ganz kleines „Haus“ gebaut und mit ihnen Weihnachten gefeiert.
Zusammengefasst werden die Schüler zum selberdenken aufgefordert und sich um andere zu kümmern, die nicht so ein Glück haben. Das ist übrigens sehr außergewöhnlich hier, denn normalerweise wird in den Schulen stumpf der Lehrplan abgearbeitet, wenn überhaupt!
In meiner Klasse komme ich total gut klar und die südamerikanische Offenheit zeigt sich, denn sie haben es mir sehr einfach gemacht dort neue Freunde zu finden und spätestens nach der Klassenfahrt war klar, dass ich ein Teil der Klasse bin. Auf meiner Schule kennt mich eigentlich jeder, und trotzdem heißt es da dann aber auch Initiative ergreifen und Leute auch mal einladen und fragen was sie vorhaben um sich mit ihnen anzufreunden.
Mit den Austauschschülern treffen wir uns regelmäßig, da wir einfach ungefähr 60 Leute in Santiago sind, die sich günstig und ohne Probleme mit Bus und Metro treffen können. Natürlich ist das interessant und lustig um Erfahrungen auszutauschen, aber trotzdem muss man aufpassen, dass man sich gerade jetzt in den Ferien nicht so viel mit den Austauschschülern, sondern sich mit seinen chilenischen Freunden trifft.
Rotary, das Jugendaustauschprogramm, seine anderen Projekte und der ganzen Arbeit die dahinter steckt, habe ich hautnah mitbekommen, da meine ersten Gasteltern beide Rotarier waren, mein Vater der Präsident meines Rotary Clubs und meine Mutter die Jugenddienstleiterin von 9 Inbounds und 9 Outbounds. Ich half ihnen beim Sachen vorbereiten, Dinge abholen und immer wenn etwas von den Inbounds anstand, lud ich sie z.B ein zum monatlichem Geld abzuholen etc. Ziemlich viel Arbeit, aber so habe bei einem großen Teil rotarischer Sachen mitgearbeitet.
Mein Rotary Club, Abrazo de Maipú, hat zum Beispiel ein Projekt für die Gesundheit der Leute, die auf dem Land leben, denn Chile hat im Gegensatz zu Deutschland keine gesetzliche Krankenversicherung, das heißt, dass Gesundheit und medizinische Versorgung so etwas wie Luxus ist und die meisten Leute auf dem Land haben noch nicht einmal die Möglichkeit nach Santiago zu kommen. Das heißt, dass wir so etwas wie ein kleines Fest veranstaltet haben, die Militärkapelle und Polizisten mit Polizeihunden eingeladen haben, um eine Attraktion zu haben. Außerdem luden wir Medizinstudenten mit Utensilien ein, und alle Leute, die kamen, bekamen einen kostenlosen Rund-Um Körpercheck und eine kostenlose Zahnuntersuchung und -behandlung. Um die 300 Leute kamen, besonders viele alte Menschen und Kinder. Ich kümmerte mich mit anderen Austauschschülern um das Essen - Empanadas, eines der Nationalgerichte Chiles.
Das hat mich echt beeindruckt, denn diese Leute könnten ohne diese Hilfe fast unmöglich medizinische Versorgung erreichen.
Hier in Chile singe ich in einem Chor in einer anderen Schule, leider in einem anderem Stadtteil. Zweimal in der Woche 2 Stunden hin und das gleiche zurück mit Bus, Metro und zu Fuß. Aber es lohnt sich, denn in Herford habe ich im Herforder Münsterchor gesungen und ich habe echt Glück hier in diesem Chor hier singen zu dürfen! Im Dezember haben wir im größten Theater von Santiago, im Teatro Municipal als einer der besten Jugendchöre Chiles gesungen und im Finale in den A-Kategorien Weiblich und Gemischt jeweils den zweiten Platz auf nationalem Niveau gemacht. Auf meinem Blog stehen die Videos!
Was ich hier auch noch einmal unbedingt erwähnen möchte, ist die Politik hier. Vor einigen Jahren gab es hier eine Militärdiktatur, (mir wurde hier gesagt inoffiziell gesponsert von den USA) um den Kapitalismus und die „Mallpolitik“ durchzusetzen. Gerade gestern war ich im Museum in Santiago, in dem an die Opfer gedacht wird, Leute forschen können, was mit ihrer Familie passiert ist, oder sich wie wir einfach darüber informiert. Diese Diktatur ist noch gar nicht so lange her, die jetzige Generation der Erwachsenen waren Jugendliche. Jeder kennt jemanden, der vom Militär umgebracht wurde und gerade beginnt die Zeit, in der man auch darüber spricht. Das Problem hier ist nur, dass sich viele Dinge einfach nicht verändert haben und die Gesetze alle ziemlich gleich sind. Und so ziemlich alles was möglich ist, ist privatisiert. Die Bildung, also Schulen, Unis, Kindergärten, Strom- und Wasserversorgung, alle Versicherungen, nur um einige Beispiele zu nennen. Der Unterschied zwischen arm und reich ist gewaltig! Gerade in der Bildung wollen viele Menschen, dass sich etwas ändert. Aber der Großteil der Leute ist mit der Politik unzufrieden, noch mehr, mit den Politikern und ihren Lügen. Politikverdrossenheit bekommt hier eine ganz andere Bedeutung, denn die Hälfte der Bevölkerung war nicht wählen! Die Leute die wählen waren, haben nicht ihre Favoriten gewählt, sondern die am wenigsten schlechtesten. Und das System des Parlaments ist so komplex und undurchsichtig, dass ich es auch nach stundenlanger Recherche noch nicht verstanden habe. Jedenfalls hat die jetzige Präsidentin Michelle Bachelet vor, etwas zu ändern, und sie will sogar das deutsche Krankenkassensystem und die Rentenversicherungsmodell einführen (natürlich auf Chile angepasst).
Und es gibt jeden Tag Proteste (aber nicht alles wird im Fernsehen gezeigt, mir wurde gesagt, es wird von der Regierung „gesponsert“. Einige Austauschschüler mussten für ihr Visa sogar unterschreiben, bei keinen Protesten mitzumachen! Vielleicht wird meine Schule aus Solidarität mit den echt schlechten staatlichen Schulen, wieder in den Streik gehen, so, dass alle Schüler die Schule besetzen, dort essen und schlafen und keine Lehrer oder Polizei hereingelassen werden kann. Es wäre ein bisschen krass dort mit zu protestieren, aber auch eine Erfahrung fürs Leben!
Insgesamt bin ich total glücklich hier, mein Leben ist anders, aber originell, ich habe so viel erlebt, was ich nicht hätte erleben können!
Dankeschön, dass der Rotary Club Herford-Widukind mich sponsert, sie geben mir diese einzigartige Möglichkeit diese Erfahrungen zu sammeln, für mein ganzes Leben!
Mit freundlichen Grüßen aus dem warmem und sonnigem Chile!
Kathrin Niehaus